Jahresrückblick: Revolutionen, Freibeuter & Dialoge

War vor einem Jahr an dieser Stelle davon die Rede, dass Weichen gestellt wurden, kann man nun getrost daran anknüpfen: Der Zug hat Fahrt aufgenommen. Fast alle gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, denen sich die Netzgemeinschaft in den letzten Jahren stellen musste, waren noch lehrreiche Abwehrkämpfe. Doch nun beginnt die Online-Welt zunehmend die Tagesordnung zu bestimmen. Und dabei geht es um weit mehr als die Frage, ob deutsche Behörden eine Facebook-Seite haben sollten.
Der Beginn des Jahres war geprägt von den Eindrücken des Aufbruchs in der arabischen Welt. Die Machthaber in Tunesien wurden verjagt, kurze Zeit später fiel das Regime in Ägypten. In Nordafrika und dem Nahen Osten breitete sich der arabische Frühling aus, der schnell zur Facebook-Revolution hochgeschrieben wurde. Es wäre sicher falsch zu behaupten, die Proteste seien maßgeblich in den Social Networks organisiert worden. Man muss aber auch ihre Bedeutung anerkennen.

Die Teilnahme an öffentlichen Protesten war in Ägypten beispielsweise stets ein riskantes Unterfangen, bei dem man Gesundheit, wenn nicht gar das Leben aufs Spiel setzte. Der Schritt, seinen Unmut mit den herrschenden Verhältnissen auf die Straße zu tragen, ist entsprechend hoch. Als auf Facebook aber eine kritische Masse ankündigte, an der nächsten Demonstration teilzunehmen, brachen schließlich die Dämme und Zehntausende weitere folgten. JahresrückblickFacebook-T-Shirts auf dem Tahrir-Platz Die ägyptische Regierung erkannte diesen Effekt sehr schnell und ihr war klar, welchen Einfluss das Netz inzwischen wirklich hat. Nicht anders ist es zu erklären, dass sie das eigene Land schließlich vollständig offline nahm. Doch aufhalten konnte dies die Entwicklung nicht mehr - im Gegenteil. Die Demonstranten erklärten den Tahrir-Platz in Kairo zu ihrem neuen Facebook und schlugen ihre Zelte auf.

Gänzlich abgekoppelt vom Netz waren sie aber ohnehin nicht. Denn binnen kürzester Zeit sorgten Netzaktivisten in vielen anderen Ländern dafür, dass die Blockade mit altbewährter Technik über die weiterhin funktionierenden Telefonleitungen umgangen wurde: In Frankreich, Deutschland, Schweden und vielen anderen Ländern wurden die alten Modem-Einwahlknoten reaktiviert und die Nummern an die Faxgeräte in Ägypten geschickt, deren Nummern irgendwoher bekannt waren. So sorgten auch Hacker und andere User letztlich dafür, dass der Sturz der alten Regimes nicht nur eine Sache der arabischen Welt, sondern auch des Netzes wurde.

Unter dessen stolperte hierzulande der von der rechten Boulevard-Presse zum neuen Star der politischen Elite aufgebaute Karl Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg - oder auch KTG, um Twitter nicht zu sprengen - über die Macht des Crowd-Sourcing. Die Ähnlichkeit einiger Stellen seiner Doktorarbeit ließen den Verdacht aufkommen, dass der damalige Verteidigungsminister sich Gedanken anderer zu Eigen machte.

Anfängliche Ausflüchte sorgten dafür, dass sich immer mehr Nutzer für die Angelegenheit zu interessieren begannen. Die Sache wurde letztlich zu einer Hase-und-Igel-Posse: Immer wenn Guttenberg vor die Kameras trat und einen weiteren kleinen Schritt der Verfehlung einräumte, hatten hunderte freiwillige Helfer schon längst weitere Plagiate nachgewiesen. JahresrückblickDas Gutteplag-Wiki Als sich schließlich nicht mehr nur auf Twitter der "Shitstorm" entlud, sondern - ganz nach dem arabischen Vorbild - zahlreiche Schuhe als Zeichen der Schmähung den Zaun des Berliner Bendlerblocks, in dem das Bundesverteidigungsministerium untergebracht ist, zierten, war KTG nicht mehr als Minister zu halten. Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet er nun im Namen der Europäischen Union für die Freiheit des Internets werben soll.

Die politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre machten vielen Netzaktivisten aber auch immer klarer, dass es langfristig nicht genügt mit kurzfristigen Aktionen und effektiven, aber letztlich doch zu kleinen Arbeitskreisen auf Ereignisse zu reagieren und nebenher darauf zu hoffen, dass der Chaos Computer Club als einzige größere Organisation eine Rolle übernimmt, für die er eigentlich nicht gedacht ist.

Daher sorgte es für einiges Aufsehen, als eine Gruppe, die sich im Wesentlichen aus den Autoren des Blogs Netzpolitik.org rekrutierte, auf der Konferenz Re:publica ankündigte, mit dem Verein "Digitale Gesellschaft" eine kampagnenfähige Lobbyorganisation aufzubauen, die den Interessen der Internet-Community auf dem politischen Parkett Gehör verschaffen soll.

Einige sind auf diesem Weg aber schon ein gutes Stück weiter. Als am Abend des 18. September auf den Bildschirmen rote, schwarze und grüne Balken in die Höhe wuchsen und der gelbe nur kurz zuckte war die Spannung in vielen Berliner Lokalen greifbar. Und sie entlud sich, als sich die orangene Säule der Piratenpartei fast bis an die 9-Prozent-Marke streckte. Erstmals zog diese im Netz geborene Partei nun in ein deutsches Landesparlament ein. Man könnte sagen: Und das gleich in Berlin. Oder - wenn man diese Stadt kennt - auch fragen: Wo auch sonst?

Nicht nur für die 15 neuen Abgeordneten veränderte dieser Tag sehr viel, sondern für die gesamte erst seit fünf Jahren bestehende Organisation. Denn eines steht fest: Die große Frage, ob sich dieser auf dem großen politischen Parkett unerfahrene, oberflächlich chaotisch wirkende Haufen bei den vielfältigen Fragen, die sich im Parlament einer Millionen-Stadt stellen, behaupten kann, wird sich zwangsläufig beantworten. JahresrückblickBerliner Piraten-Fraktion Bisher spricht Vieles dafür, dass ihnen dies gelingt. Betrachtet man die Arbeit der Fraktion genauer, zeigt sich, dass es ihnen gelingt, sich mit Hilfe ihrer netzbasierten Tools auf viele Unterstützer und Experten zu stützen. Aber nicht nur diese neuen Politiker müssen sich einem Lernprozess stellen, sondern auch die Öffentlichkeit und die Presse. Was bei anderen bisher eher in kleiner Runde geschah, läuft bei den Piraten auf Twitter und ähnlichen Plattformen. Bisher wird noch jeder Fehltritt in den Medien zum Skandal aufgebauscht, wodurch die inhaltlichen Fragen in der Berichterstattung oft überlagert werden.

Eines bewirkte der Einzug der Piraten in das Berliner Abgeordnetenhaus schon recht sichtbar: Die Bedeutung der Netzpolitik für die Gesellschaft ist in den anderen Parteien des Bundestages stärker ins Bewusstsein gerückt und ist dort nicht mehr nur ein Thema weniger Spezialisten. SPD, Grüne und Linke haben sich netzpolitische Grundsatzprogramme gegeben.



Ein vielbeachtetes Beispiel ist aber auch Peter Altmaier, parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion. Seit September ist dieser in einen regen Austausch mit vielen Twitter-Nutzern getreten. Auch wenn es viele thematische Differenzen gibt, stehen die Zeichen doch auf Dialog, wobei sich auch zeigte, dass die Netzgemeinschaft noch viel lernen muss - insbesondere was die Vermittlung ihrer Themen über die eigenen Kreise hinaus angeht.


Festzzustellen ist, dass die Auseinandersetzung um die gesellschaftliche immer bedeutender werdenden Fragen aus dem Bereich der Netzpolitik weiterhin erst am Anfang steht. Die Berührungspunkte sind noch immer schwach ausgeprägt und auf beiden Seiten wird immer noch zu oft der Holzhammer herausgeholt - sei es bei verschiedenen Aktionen des Anonymous-Kollektivs oder wenn die Spackeria die bestehenden Bedenken über den Datenschutz mit ihrem Post-Privacy-Konzept schlicht wegbügelt oder von staatlicher Seite aus Rechner mit Trojanern infiziert, die vollständige Überwachung der Bevölkerung mittels Vorratsdatenspeicherung gefordert oder die populären sozialen Netzwerke einfach nur als Bedrohung hingestellt werden.

Dass hier noch ein langer Weg vor uns liegt zeigt die Debatte um eine Erneuerung des Urheberrechts. Auch diese steckt seit Jahren im Katz-und-Maus-Spiel fest: Kino.to musste schließen und wurde durch verschiedene Nachfolger ersetzt. Die legalen Angebote wachsen zwar, aber ein grundsätzliches Neudenken des Urheberrechts im Licht der digitalen Gesellschaft - oder zumindest der Versuch einer Debatte - findet noch kaum statt.


Letztlich steht wohl ein weiteres interessantes Jahr vor uns. An dieser Stelle sei daher auch jener Gedacht, die in den letzten Jahren viel geleistet haben, uns aber auf dem weiteren Weg nicht mehr begleiten können. Stellvertretend sei hier Robin Meyer-Lucht genannt, dessen Wirken weit über die Aufreger des Tagesgeschäfts hinaus tiefergehende Denkanstöße lieferte.

Ich wünsche allen in den kommenden Tagen noch etwas Ruhe, Erholung von diesem Jahr, aber auch ein rauschendes Fest zum Jahreswechsel. Tankt Kraft, ihr werdet sie brauchen.

Dieser Artikel ist Teil einer Serie von Jahresrückblicken, in denen unsere Redakteure bis zum Jahreswechsel ihre persönliche Sicht auf das vergangene Jahr darlegen. Auf der folgenden Seite bieten wir außerdem einen Überblick über die jeweiligen Top 10 der interessantesten und beliebtesten Beiträge der vergangenen zwölf Monate.
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